In fremden Schuhen leben

Ich sitze auf einer breiten Bank am Bahnsteig. Aus den Ohrhörern dröhnt Nickleback "What are you waiting for?" in mein Bewusstsein, meine Augen tasten nach interessanten Angeboten.
Was treibt diesen Mann dazu, sich derart in Szene zu setzen? Hüftschwung a la Elvis. Nach neuestem Modetrend weist die Jeans mehr Löcher als Stoff auf, ein schreiend pinkfarbenes Hemd, die Haare wie ein 16jähriger himmelwärts gestylt - von Weitem sieht er sehr jugendlich aus, im Näherkommen sehe ich, dass er die 50 schon kräftig überschritten haben muss. Er wiegt sich in einem energiegeballtem Schritt, ein Smartphone am Ohr und eine schmale teuer aussehende Herrentasche unter den Arm geklemmt, steigt er in den Zug. Wahrscheinlich einer aus meinem ehemaligen Arbeitsumfeld. Lächerlich eigentlich. Wie wichtig die nächste Anzeigenkampagne, wie dringend die neue Plakatserie! Ich kenne das. Aus einem anderen Leben. Werbung, Marketing, Medien.
Da: Eine junge Frau mit langen dunklen Haaren, ein Kind an der Hand. Eigentlich ist sie viel zu jung, um die Mutter zu sein. Vielleicht ein Au Pair Mädchen? Vor meinem inneren Auge sehe ich sie zwischen den Lavendelzeilen in Südfrankreich über die lila blühenden Büsche streichen. "Vieni qui, vieni, Nico!" ruft sie den kleinen Buben. Knapp daneben. Aber ob aus Frankreich oder Italien - da ist kein so großer Unterschied. Also für mich.
Der mit diesen vielen Taschen dort ist auch kein Alltagspassant hier. Gehören die Einkaufstaschen alle ihm? Wo ist seine Frau? Wahrscheinlich die Brünette dort schräg hinter ihm. Diese Taschen die er trägt gehören sicher ihr. Kein Mann braucht so viele Klamotten. Nein, die Frau gehört doch nicht zu ihm, sie hakt sich gerade bei einem anderen Mann unter. Er schaut nett aus. Auf jeden Fall ist er verheiratet. Wahrscheinlich zwei Kinder. Zumindest eine Tochter. Ein Frauenversteher. Wahrscheinlich hat er ein eigenes Geschäft. Ganz glücklich ist er nicht mit seiner Situation. Die Mundwinkel hängen. Ja, nach drei, vier Jahrzehnten Lebenserfahrung passiert das. Das Leben ist kein Mandelmilchmüsli. Er wollte wohl den Zug nach Baden erreichen.
"Er ist gerade weg", erkläre ich ihm auf seinen mich fragend andockenden Blick.
"Leider. Um gerade eine Minute zu spät!"
"Das ist ärgerlich, ja", antworte ich.

Er schaut auf die Uhr. Eine teuer aussehende Uhr.
"In einer Stunde geht der nächste. Eine ganze Stunde verschissen", ärgert er sich. "Stress?", will ich wissen.
"Das wäre ein zu großes Wort", meint er und setzt sich neben mich.
"Ach ja?" fordere ich ihn zum Weitersprechen auf. Willig nimmt er das Gespräch an. Er ist es offensichtlich gewohnt mit fremden Menschen Smalltalk zu betreiben. Ich nicht.
"Dabei bin ich wirklich gut organisiert. Mein Time-Management-App hat mich perfekt durch den Einkaufsdschungel gelotst. Was es nicht einplanen konnte war die Zeitspanne die ich benötigte, um durch die Griffe all dieser vielen Taschen zu kommen."
Ich liebe es, wenn Menschen Sarkasmus nicht fremd ist, wenn sie auch sich selbst nicht so wichtig nehmen. Ein vielversprechender Gesprächspartner, mein erster Eindruck hat mich nicht getäuscht!
"Das kostete Sie eine ganze Minute?" staune ich.
"Ja. Oder sogar mehr. Drei, vier Minuten!"
"Das ist viel Zeit", wollte ich das Geplänkel keinesfalls abreißen lassen.
"Sie sagen es. Und ich musste schließlich... warten Sie... eins, zwei... nein, vier Mal die Straßenbahn wechseln!"
"Sie fahren mit der Straßenbahn zum Einkaufen?" " Natürlich. Man muss die Öffentlichen nutzen, sonst gibt es sie bald nicht mehr. Und dann... was dann?"
Ich wage einen Vorstoß: "Ich hätte Sie als Mercedesfahrer eingeschätzt."
"Tatsächlich?"
Jetzt bin ich neugierig, was kommt. Es macht mir immer mehr Freude Menschen zu beobachten, mir auszudenken, wer sie sind und wie sie leben. Es ist spannender, lebendiger als ein Buch zu lesen oder einen Film anzusehen. Es ist mein eigener Film. Ich bin selbst Drehbuchautor und Regisseur, Kameramann und Cutter. "Nicht ganz richtig. Nicht ganz falsch", wiegt er bedächtig seinen Kopf.
Ich fasse nach: "Sie waren Mercedes-Besitzer!"
"Stimmt, jetzt fahre ich Volvo", lacht er und droht mir schalkhaft mit dem Zeigefinger. Dachte ich es mir doch! Ich bin richtig heiß darauf noch weitere Eckpfeiler seines Lebens aufzuspüren."Ja. Das passt auch noch in mein Bild von Ihnen", bestätige ich ihm und er hat offensichtlich auch Blut geleckt an unserem gerade neu erfundenen Spiel.
"Meine Frau hat das Auto meistens", wirft er mir den Ball zu.
"Warum sind Sie denn nicht gemeinsam zum Einkaufen gefahren?"
Das ist vielleicht eine Spur zu provokant aus mir herausgesprudelt, denke ich. Er zieht sich ein bisschen zurück, ist unsicher. Schade. Ich rudere zurück:
"Verzeihen Sie, das geht mich nun wirklich nichts an."
Und schon geht das Spielchen wieder weiter. Gewonnen! "Und Sie?" kommt es von Seiten meines Gesprächspartners. Ich muss zugeben, dass auch meine Frau meistens Anspruch auf die Familienkutsche erhebt.
"Lassen Sie mich raten! Sie haben, Sie haben einen... einen Alfa Romeo in der Garage!" Sein Eifer ist fast rührend, aber ich muss abwinken. Obwohl es mir natürlich schmeichelt. Schließlich fände ich es toll einen Spider oder zumindest eine Giulietta zu fahren. Mein Konter war dann klar:
"Ich denke eher, dass Sie gerne einen italienischen Sportwagen besitzen würden. Habe ich Recht?", setze ich noch nach.
"Ertappt! Aber meine Frau meint, der sei nicht familientauglich", führt er lachend aus und ich denke mir: ja, die Frauen. Seiner Tochter würde er auch gefallen, plaudert mein Nachbar weiter. Das habe ich mir ja gedacht. Eine Tochter also. Wir unterhalten uns hier wie alte Freunde und wissen doch nichts voneinander. Was nicht heißt, dass ich nichts über sein Leben wissen will. Im Gegenteil, ich lebe es im Moment gerade mit ihm, wir gehen ein Stück unseres Lebens gemeinsam.
"Sie sollten sich durchsetzen bei Ihren Frauen", rate ich ihm und meine das im Moment auch wirklich genau so wie ich es sage. Als ob ich jemals gut darin gewesen wäre. Aber das ist jetzt egal und wird auch zukünftig keine Rolle mehr spielen, was ich kann oder nicht kann.
"Meinen Sie?" kommt die erstaunte Frage.
"Aber sicher!" bekräftige ich meinen Rat, nur um von meinem neuen Gesprächspartner zu hören, wie unmöglich mein Ansinnen sei, zumindest meistens. Innerlich gebe ich ihm zu einhundert Prozent Recht, trotzdem reitet mich das Überlegenheitsteufelchen, das mich sagen lässt:
"Frauen lieben Männer mit Kanten und Durchsetzungskraft." Was ich gerade ausgesprochen habe wünsche ich mir natürlich in tiefster Seele selbst. Denn in Wahrheit liebt Eva mich ausschließlich dafür, dass ich nachgebe, tue was sie von mir erwartet.
"Sie kennen meine Frau nicht!" "Ich kann sie mir förmlich vorstellen", sage ich und habe auch schon ein Bild vor Augen.
"Wie mein Auto?" "Ja. Groß. Üppig," und lege schnell noch ein "Blond?" nach.
"Aber nein. Das würde nicht zu mir passen. Sie ist eher..."
"Aber Sie hätten gerne eine Frau die groß, blond und üppig ist, nicht wahr?", bin ich von meiner Vision überzeugt.
"Sind Sie Psychologe, oder was?"
"Ich bin Robert", stelle ich mich nun doch endlich vor. Irgendwie kommt es mir seltsam vor den Namen meines so intim gewordenen Gesprächspartners nicht zu kennen.
"Geri. Freut mich."
"Psychologe bin ich nicht, nein. Aber ich interessiere mich für die Menschen um mich", höre ich mich ganz verwundert selbst sagen. Ich wollte das doch niemanden erzählen!
"Sie sind mir direkt ein bisschen unheimlich. Das muss ich jetzt sagen!" Ha, der Gute. Wenn er wüsste, dass ich mich wie ein Vampir vom Blut des Lebens anderer Menschen ernähre! Er soll nichts merken.
"Ich bin ganz harmlos. Keine Sorge. Haben Sie das hier alles für sich gekauft?" frage ich und fühle mich wirklich wie Graf Drakula auf Blutbeutezug.
"Nein! Um Himmels Willen. Das Eine und das Andere ist für mich - ja. Meine Frau - sie hasst es online einzukaufen, müssen Sie wissen - hat mir genaue Anweisungen gegeben, was ich besorgen soll. Sie ist ja Stammkundin in vielen Geschäften und da bekommt sie alles zur Anprobe mit nach Hause. Also eigentlich ich. Ich bekomme alles mit nach Hause."
"Warum geht sie nicht selbst einkaufen?" Ich kenne eigentlich keine Frau, die nicht gerne stunden-, ja tagelang in den Geschäften und Boutiquen herumstöbert, das eine und das andere anprobiert um es mit verächtlichem Blick wieder zurückzulegen oder mit einem strahlenden Lächeln vorführt, so dass Mann nicht den Mut hat über den Preis zu diskutieren. Ich habe immer den Eindruck Boutiquen sind für Frauen das was das Wasser für Fische ist.
"Das tut sie ja. Sie sieht die Webseiten der bevorzugten Modehäuser durch und lässt sich dann im Geschäft eigene Kombinationen zusammenstellen."
Himmel, das klingt kompliziert.
"Ja. Einfach ist sie nicht. - Und probiert wird dann Zuhause. Das dauert dann mindestens zwei Stunden. Ich überlege mir jetzt schon, was ich für Kommentare abgeben werde. Ein Spießrutenlauf ist einen Bananenfrappé dagegen."
"Da sind Sie ja nicht zu beneiden", kann ich gerade noch anbringen bevor er weiterlamentiert.
"Sie sagen es! Sie lässt es nämlich nicht gelten, wenn ich nur sage "schön" oder "das steht dir wirklich gut"."
"Nicht?"
"Nein!" "Es muss immer anders klingen!" fällt mir gerade noch ein. Das kenne ich von Eva auch. Komplimente muss man variieren, sonst nutzen sie sich ab. Richtig dankbar schreit mit Geri fast ins Ohr:
"Sie haben es erfasst!" Gut. Da ich darin durchaus auch meine Erfahrungen habe, kann ich helfen. Vielleicht. Ich versuche es.
"Wie wäre es mit "das ist genau deine Farbe"?"
"Hab ich schon verbraucht."
"Dieser Schnitt unterstreicht deine Rundungen perfekt".
"Um Himmels Willen, das geht gar nicht. Da glaubt sie sofort, ich denke sie sei zu fett!"
"Verstehe. Dann eben "Dieser Schnitt betont perfekt deine schmale Silhouette"."
"Ja. Das ist besser." Er schreibt es schnell in sein Notiz-App und schaut mich erwartungsvoll an, ob ich nicht noch weitere zitierbare Komplimente ausspucke wie ein Horoskopautomat.
"Das macht richtig schöne lange Beine, sexy", lese ich ihm seinen Wunsch von den Augen ab und er reagiert glücklich wie es die Frau, der das Kompliment gelten soll, tun wird. Hoffentlich. Ich wünsche es ihm wirklich aus ganzem Herzen.
"Unglaublich. Damit siehst du gleich mindestens fünf Jahre jünger aus", fahre ich ganz im Fahrwasser meiner früheren Tätigkeit in der Agentur fort.
"Das ist zu dick aufgetragen. Gefährlich."
"OK. Dann vielleicht: "Das lässt dich richtig jugendlich aussehen", bin ich nicht zu bremsen. Doch der Bann scheint gebrochen.
"Jugendlich" sei vielleicht ein wenig zu gewagt, meint er. "Frisch!" Ja. "Das lässt dich richtig frisch aussehen". Er ist völlig euphorisch und tippt ganz eifrig seine Notizen ein.
Ich wage einzuwerfen: "Das wäre mir zu viel." "Kennen Sie den Blick, den Ihre Frau Ihnen zuwirft, wenn Sie auf einen Befehl ablehnend reagieren?"
"Ihre Frau befiehlt Ihnen?", wage ich einzuwerfen, doch nun ist er in Fahrt. "Nein. Natürlich bittet Sie mich um dieses und jenes. Aber die harmlos scheinende Bitte ist eigentlich immer ein gut getarnter Befehl. Wenn ich Ihrer BITTE nicht nachkomme, ist sie böse. Beleidigt. Persönlich enttäuscht. Sie straft mich mit Liebesentzug. Sie schweigt. Tagelang!" - "Sie geht aus und sagt Ihnen nicht wohin sie geht und wann sie ungefähr gedenkt wiederzukommen," ergänze ich aus eigener bitterer Erfahrung. Er lächelt mich wissend an, wir sitzen in einem Boot.
"Was machen Sie eigentlich beruflich?" frage ich die dringlichste Frage aller Fragen der westlichen Welt. Schon seltsam, dass in unserem Kulturkreis das Wissen um den Beruf des Gegenübers uns meinen lässt, dass wir über Status, Respektabilität, Lebensumfeld - ja fast über den Charakter der Person informiert sind.
"Kennen Sie das Musikhaus Zeiler?" fragt Geri in meine Gedanken hinein. Noch nie gehört, Musik ist nicht meine Welt, signalisiere ich mit einem Kopfschütteln. Es ist sein Geschäft, sein Universum schlechthin, was er gleich wortreich erklärt.
"Musik ist so universell! Besser als alle Wissenschaften und alle andere Künste zusammen! Musik spricht eine Sprache, die jedem zugänglich ist. Finden Sie nicht?"
"So habe ich das noch nie gesehen. Spielen Sie auch ein Instrument?", will ich wissen, nein, eigentlich weiß ich es schon. Natürlich tut er das, so wie seine Augen leuchten. Dieses Strahlen kommt nicht von grauer Theorie.
"Natürlich! Nicht nur eines! Man muss den Kunden ja zeigen können, wie ein Instrument klingt, man muss seine Seele offenlegen. ... Ich spiele auch in einer Band. Nur Unterhaltungsmusik. Macht aber einen Riesenspaß."
"Was machen denn Sie gerne?" Seine Frage trifft mich unvermittelt. Was mache ich gerne? Früher? Heute? Jetzt?"Hier sitzen," antworte ich wahrheitsgemäß und sehe wie es in seinem Gesicht arbeitet, wie er um eine neutrale Mimik kämpft, wie er mit meiner Mitteilung nichts anzufangen weiß, sie nicht einordnen kann. Hilflos fragt er: "Und mit Musik haben Sie wirklich gar nichts am Hut?" Seine Unsicherheit ist herzzerreißend, dennoch bleibe ich dabei und schüttle den Kopf. "Aber erzählen Sie ruhig von Ihrer Band. Ihre Euphorie ist so wohltuend, geradezu ansteckend." Er ist sichtlich erleichtert, atmet den gestockten Atem aus, holt zügig Luft, um mir dann fast in einem einzigen Atemzug weiter von seiner Passion zu erzählen. Fast fühlt es sich an, als ob er meine innere Leere mit seinem Übermaß an Gefühl ausfüllen möchte. Als ob er mir Leben einhauchen wollte. In gewisser Weise tat er das ja auch - er wusste es nur nicht.
"Ich spiele den Bass. Und Sänger bin ich auch. Wir spielen in Cafés, Bars, bei Hochzeiten und manchmal ein kleines eigenes Konzert. Wir haben sogar schon richtige Fans. Die kommen überall hin wo wir spielen. Bei Wind und Wetter."
"Ihre Frau wird eifersüchtig sein", beteilige ich mich wieder am Gespräch.
"Ja. Das ist sie. Und wissen Sie was? Das tut mir richtig gut!"
"Sie findet den Musiker in Ihnen sexy," lege ich nach, worauf er zuerst verlegen lächelt, dann aber selbstbewusst die Schultern strafft.
"Genau! Nach jedem Konzert, wirklich nach jedem Konzert, habe ich Narrenfreiheit. Ist sie um mich bemüht, sogar richtig liebevoll. Ja. Sie haben Recht. Sie findet mich als Musiker immer noch sexy!" Meine Güte, jetzt wird es mir doch zuviel, diese noble Zurückhaltung.
"Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, mein Guter. Nach jedem Konzert haben Sie Sex", bringe ich es auf den Punkt, der mich wirklich interessiert. Ich ernte ein verschämtes Hüsteln. Nicht so schüchtern, Mann! Wir sind doch unter uns, denke ich, sage aber: "Richtig geilen Sex!" Ich traue meinen Augen nicht: Der Mann läuft rot an wie der Pudding im Himbeertörtchen. Das spornt mich an.
"Sie ergreift sogar die Initiative!" Er fährt sich mit beiden Händen durchs schon etwas schüttere Haar.
"Da ist sie auch für Experimente offen", verfolge ich meinen Hauptgedanken weiter.
"Wie in den aufregenden Anfangszeiten." Köstlich! Nun rutscht der Mann wie ein Schulbub unruhig hin und her. Ich hätte nicht gedacht, dass es das noch gibt....





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